Das alte Schätzchen ist müde

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Ich bin etwas kurzsichtig. Nicht dramatisch, aber ohne Brille wäre ich aufgeschmissen. Und da ich seit meiner Jugend konsequent eine trage, kann ich inzwischen kaum mehr aus dem Bett aufstehen ohne das Ding auf der Nase.

Meinen Modellen bin ich immer sehr treu gewesen. Seit etwa 15 Jahren komme ich mit nur zweien aus, die sich nach Laune abwechselten. Das eine ist ein einfaches aber handwerklich sehr hochwertiges Metallgestell. Das zweite eine recht markante Hornbrille aus den 60ern.

Anhand des Metallgestells bin ich von Kennern auch außerhalb Westfalens als Münsteraner erkennbar. Es stammt aus den Kellern des berüchtigten Herrn Kalthoff.

Kalthoff war in Münster Kult. Sein Erfolg beruhte zum einen auf perfekter Qualität gerade auch bei der Beratung. Wer einmal bis zu ihm oder seiner Frau vorgedrungen war, wollte sich in der Regel danach nicht mehr mit anderen Anbietern einlassen.

Der zweite Pfeiler seines Erfolgs war eine unglaubliche Arroganz bei der Behandlung seiner Kunden. Am damals noch existenten langen Samstag hatte er bspw. einfach geschlossen. Die Laufkundschaft von außerhalb war ihm wohl zu anstrengend. Legendär auch seine oft monatelangen Betriebsferien, gepaart mit dem Gebot, die Gestelle keinesfalls irgendwelchen Kurpfuschern von der Konkurrenz in die Hand zu geben.

Hatte er dann doch einmal geöffnet, bildeten sich lange Schlangen vor seinem Geschäft, denn mehr als zwei Wartende wurden innerhalb des Ladens nicht geduldet. Auch und gerade bei Regen, Schnee oder Kälte nicht.

Die eigentliche Beratung bestand aus der exkaten Vermessung des Gesichts, einem Gang in den Keller und der Vorlage von zwei maximal drei Gestellalternativen. Widerspruch gegen die Vorgaben war zwecklos.

Den meisten Kunden blieb nur die Wahl zwischen ovalem, rechteckigem oder tropfenförmigem Drahtgestell in gold. Einige wenige hatten das Glück, ein Schätzchen aus den “historischen” Beständen - dann meist in Horn - vorgelegt zu bekommen. Mir war dieses Glück beim dritten Anlauf beschieden und ich griff zu.

Das Schätzchen war mir nun 15 Jahre lang treu, obwohl - oder weil?! - ich es manchmal monatelang verschmähte, es Regen oder gar Schwimmbadwasser aussetzte - das mag Horn gar nicht -, es dann aber auch wieder liebevoll mit Olivenöl extra virgine aufpäppelte.

Aber jetzt ist es wohl aus mit der Liebe zu mir. Der Rahmen ist ziemlich schwerwiegend gerissen, so dass das Glas nicht fest sitzt und der totale Kollaps bei weiterer Benutzung wohl unmittelbare Folge wäre.

Und nun? Die Familie Kalthoff hat sich bereits zu meinen Münsteraner Zeiten für immer in die Karibik oder sonstwo hin verabschiedet. Adäquaten Ersatz kann ich nirgendwo entdecken. Die Nachfolger im Laden haben die Lücke damals nicht wirklich schließen können.
Hat jemand eine Idee? Herr Knüwer vielleicht. Der war meines Wissens dort auch schon Kunde.

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Schon 3 Kommentare.

  1. Jörg Friedrich

    Zunächst mal: Ein wunderschöner Text, der die Rolle, die jener Optiker in Münster (und offensichtlich darüberhinaus) gespielt hat, liebevoll, unterhaltsam und persönlich wiedergibt.

    Ich persönlich habe mich immer geweigert, mich dem autoritären Geschmack eines einzelnen unterzuordnen. Die Arbeit, herauszufinden, was zu mir passt, muss man sich meiner Meinung nach schon selbst machen, auch wenn das anstrengender ist, als in Regen und Wind auf Erleuchtung durch einen Über-Optiker zu warten.

  2. 50hz

    Kalthoffs Maxime war weniger der Geschmack, sondern die Zweckmäßigkeit. Eine Brille war für ihn in erster Linie ein medizinsches Gerät, das eine exakte Anassung an Gesicht und Kopf des Trägers erfordert. Dieser Grundsatz erforderte große Variabilität bei den Maßen der Gestelle. Mehr als ein paar Standarddesigns würden diesen Ansatz unendlich kostspielig machen. Und das wollte er wohl auch nicht. Denn trotz anderer Gerüchte war Kalthoff niemals teuer.

  3. Jörg Friedrich

    So habe ich das ehrlich gesagt nie gesehen.

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